Hospizarbeit ist mehr als Pflege: pädagogische Aspekte in der Hospizarbeit
Wichtige Fragen des Lebens nicht totschweigen – Das Gespräch über Sterben, Tod, Trauer Bestandteil v. Erziehung, Bildung
Tagung der Konrad-Adenauer-Stiftung M-V, Bildungswerk Schwerin und Landesarbeitsgemeinschaft Hospiz & Palliativmedizin M-V – Güstrow, 2011
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Hospizarbeit ist mehr als Pflege: pädagogische Aspekte in der Hospizarbeit
2011: Kennzeichen der Hospizarbeit – Verbesserung der medizinischen und pflegerischen Versorgung sterbenskranker Menschen.
2005: In seiner Rede „Sterben lernen heißt leben lernen“ würdigt Bundespräsident Horst Köhler den Kerngedanken der modernen Hospizarbeit. Er sieht ihre besondere Bedeutung darin, dass sie sich als bürgerschaftliche Bewegung für einen natürlichen Umgang mit dem Tod einsetzt und diesen als einen immanenten Teil des Lebens versteht. „ Der Tod als Grenze des Lebens macht das Leben kostbar und mahnt uns, auf erfüllende Weise zu leben.“ Unsere Sterblichkeit fordert uns auf, die Frage nach Lebensinhalt und Lebenssinn zu beantworten.
I. Wirkung in die Öffentlichkeit
Die Hospizbewegung war am Anfang eine gesellschafts- und medizinkritische Kraft. Sie war von der Vision und der Motivation geleitet, eine Opposition gegen die Hospitalisierung des Sterbens zu sein, um Menschen ein Sterben in Würde und Individualität zu ermöglichen.
Diese gesellschaftskritische Funktion wird von der Hospizarbeit auch als eine „pädagogische“ Aufgabe wahrgenommen, in Veröffentlichungen und Stellungnahmen, aber vor allem in vielen Vorträgen, Unterrichtseinheiten an Schulen, Gesprächsabenden etc. Neben der gesellschaftskritischen Funktion der Hospizbewegung geht es auch darum, einen bewussten Umgang mit Sterben und Tod in der Gesellschaft zu lehren. Grundlage dabei ist, dass der Tod an sich und das Sterben als Grenze des Lebens zu akzeptieren ist im persönlichen wie im gesellschaftspolitischen Bereich. Es ist ein Paradigma als Lernmoment für den Umgang mit der Begrenztheit des Lebens, so wie mit den vielen weiteren Grenzen, die dem Menschen als soziales Wesen begegnen.
II. Jüdisch-christliche Tradition
Der Hospizarbeit liegen somit zwei urchristliche, jüdische Gedanken zu Grunde. Erstens, so wie es in Psalm 90 heißt, ist das Sterben in der jüdisch-christliche Tradition mit einem „klug“ werden verbunden:
1. Die Tatsache, dass der Mensch sterben muss, gibt ihm eine Lebensaufgabe: eine Aufgabe für das Leben und auch eine Aufgabe zum Leben.
2. der alttestamentliche Gedanke wird aufgenommen, dass unter Leben im Alten Testament nur ein erfülltes Leben verstanden wird. Das Leben wird nicht nur biologisch definiert, sondern wird von seiner Qualität bestimmt, im Besonderen von der Beziehung zu Gott. Von Leben ist in der Bibel die Rede, wenn eine bestimmte „Qualitas“ / Qualität vorhanden ist.
III. Die Hospizbewegung
Verena Begemann1 erörtert in ihrem Studium „Hospiz – Lehr- und Lernort des Lebens“ ausführlich die Frage: „Was lernen Menschen durch die Gewissheit des Todes für die Gestaltung ihres Lebens?“ Sie geht in ihrer Fragestellung davon aus, dass „Leben lehren“ und „Leben lernen“ aufeinander bezogen und ineinander verwoben sind.
1 V. Begemann, Hospiz – lehr- und Lernort des Lebens. Stuttgart 2006
2 E. Kübler-Ross, Befreiung aus der Angst, Stuttgart 1983; E. Kübler-Ross, Was können wir noch tun, Stuttgart 1983.
Der Anfang der Hospizarbeit ist gekennzeichnet durch eine in ehrenamtlichen Gruppen arbeitende Bürgerbewegung. Diese ambulante ehrenamtliche Arbeit ist bislang die Basis der Hospizarbeit und hat gerade wegen der Ehrenamtlichkeit nicht nur eine große gesellschaftlichen Akzeptanz, sondern auch einen sehr direkten und ansprechenden Zugang zu den Betroffenen und deren Angehörigen gefunden.
So ist Hospizarbeit viel mehr, als nur die, in den letzten Jahren, vielfach gesellschaftlich und medizinisch-politisch betonte rasante Entwicklung der angebotenen, unterstützenden und entlastenden Aktivitäten. Sie setzt sich auseinander mit den Themen ”Leben”, “Sterben”, ”Tod” und ”Trauer” und trägt auf vielfältige Weise das am Anfang beschriebene „Thema“ der Hospizbewegung in die Gesellschaft und konkret in viele Häuser und Lebensmittelpunkte. Dazu gehören auch die gesellschaftskritischen Fragen: Was ist gutes Leben? Was ist gutes Sterben? Und wie gehen wir mit den Verstorbenen und ihren Angehörigen um?
IV. Lernen und Lehren
Ehrenamtliche, die Kranken- und Sterbebegleitung im Sinne der Hospizbewegung leisten sind keine „professionellen Sterbebegleiter“ und müssen keine spezielle Ausbildung in einem
medizinischen, pflegerischen, seelsorgerischen oder anderem Beruf haben. Jeder
Hospizhelfer trägt hier mit seinen Lebenserfahrungen und individuellen Fähigkeiten dazu bei,
erlebtes, würdiges und selbstbestimmtes Leben bis zum Ende zu ermöglichen, den
spezifischen Bedürfnissen Schwerkranker und Sterbender sowie ihrer Angehörigen gerecht
zu werden.
Gleichwohl ist eine spezifische Vorbereitung unerlässlich, um sich als Hospizhelfer auf die
Bedürfnisse der Sterbenden und ihrer Angehörigen einstellen zu können.
Elisabeth Kübler-Ross2 hat ausführlich beschrieben, dass Sterben, Tod und Trauer Themen sind, die jeden Menschen existentiell betreffen. In der Ausbildung der ehrenamtlichen Hospizhelfer/-innen ist immer die ganze Person der Helfenden einbezogen. Die eigene Auseinandersetzung mit Sterben, Tod und Trauer, mit Ängsten und Vorbehalten, sind Hauptthemen in der Ausbildung und werden so gestaltet, dass die Teilnehmer in die Lage versetzt werden, ihre Ängste und Vorbehalte, ihre Hemmungen und „Hilflosigkeit“ wahrzunehmen. Sie werden befähigt, diese wiederzuerkennen und dadurch eine neue Form des Umgangs mit diesen Gefühlen zu entwickeln. Es ist ein „an sich selbst“ Lernen. Dieses Lernen setzt Kräfte für die Begleitungen frei, weil die Helfenden etwas für sich gelernt haben, für ihr „ganzes Menschsein“.
Nach der Grundausbildung sind es die Erfahrungen die in den Sterbe- und Trauerbegleitungen gemacht werden, die bei den Hospizhelfer/-innen einen vertieften Lernprozess in Gang setzen. In den praxisbezogenen monatlichen Gruppenabenden werden diese Erfahrungen ausgetauscht und supervisorisch aufgearbeitet. In diesem Prozess sind die eigenen Gefühle, die Reflektion und die Analyse des Handelns aufeinander bezogen.
Hospizhelfer/-innen haben somit nicht nur ihre unterstützende Arbeit einzubringen, sondern haben in ihrer eigenen Entwicklung „Leben“ gelernt und können diese „Lebens-Weisheit“ oder „Klugheit“ (nach Psalm 90, 12) austragen und in den Begleitungen weitergeben. Aus diesen Ergebnissen entstehen neue Erkenntnisse und Erfahrungen und der Regelkreis beginnt von vorne.
So sind Hospizgruppen Gemeinschaften von Lernenden und Lehrenden. Dieser Prozess von kontinuierlichem Lernen wird im Judentum in der Tradition des „Lehrhauses“ unter dem Begriff „Lebenslanges Lernen“ gelebt.3 Auch hier sind Denken und Handeln immer aufeinander bezogen, ausgehend von konkreten Fragen des Lebens. Hospizhelfer/-innen gewinnen nicht nur eine erweiterte Bewusstseinsbildung, sondern auch eine erweiterte Handlungskompetenz. Sie werden mit den von ihnen geleisteten Begleitungen zu wichtige Multiplikatoren von Lebenssinn und Lebenskunst: eine aufgeklärte „ars moriendi et bene vivendi“.
3 Franz Rosenzweig (1886-1928)/Rosenstock-Huessy (1888-1973); Vgl. Begemann 2006, 23.
4 Auch die Hospizbewegung weiß um ihre Grenzen, dass letztendlich das Leidvolle im Sterben und Tod eines Menschen liegt, in einer Begleitung nicht genommen werden kann.
V. Türen öffnen
Die Hospizarbeit begegnet Menschen, die sich freiwillig an sie gewandt haben und auf Grund der neuen, unbekannten Situation offen sind, Neues und Helfendes zu erfahren. Wo Methoden religionspädagogischen Arbeitens abstrakt bleiben, bietet die Hospizarbeit erfahrungsbezogene und wirklichkeitserschließende Lernmomente, weil sie sich manifestiert in existentiellen lebensgeschichtlichen Situationen.
Die Hospizidee wird getragen von Haltungen wie Achtsamkeit, Wert- und Hochschätzung, die auf die sozialen und spirituellen Bedürfnisse des Sterbenden gerichtet sind. Hospizarbeit und Palliativmedizin sind mehr als eine medizinische oder pflegerische „Behandlungskonzeption“. Sie ist vielmehr eine „Lebenshaltung“, die gelernt hat mit Grenzen4 und Werten umzugehen.
So ist es eine in dem Pflege- und Versorgungsalltag der Hospizarbeit in den Hintergrund geratene Aufgabe der Hospizbewegung, nicht nur auf Grund von Werten und Wertschätzung zu handeln, sondern diese Werte und Lebenshaltungen zu vermitteln. In der Hospizarbeit werden der sterbende Mensch und seine Angehörigen als „gemeinsame Adressaten“ gesehen. In der Zuwendung zu den Angehörigen lebt die Hospizarbeit diese Werte und vermittelt ihnen zugleich, so dass der Kreis von Angehörigen in gewisser Weise ein Kreis von „Lernenden“ wird.
Das heißt, dort wo eine Hospizbegleitung stattfindet, hat diese nicht nur Bedeutung für den oder die Betroffene, sondern zieht weitere Kreise in das vorhandene Umfeld. Damit geht von jeder Hospizbegleitung eine paradigmatische oder multiplikatorische Wirkung, nicht nur auf die Sterbekultur, sondern vor allem auf die Lebenskultur aus.
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Philip Stoepker
Landeskirchlicher Pfarrer für Hospizarbeit der PEK
Ambulanter Hospizdienst Greifswald-Ostvorpommern
Bugenhagenstraße 1-3
17489 Greifswald
Mail: hospizdienst_stoepker@greifswald.de